Berlin: Language Science Press, 2020. — 245 S. — (Empirically Oriented Theoretical Morphology and Syntax 6). — ISBN 978-3-96110-259-4.
Wie in vielen anderen Sprachen der Welt hat sich auch im Deutschen der Definitartikel aus einem adnominal gebrauchten Demonstrativum herausgebildet. In der vorliegenden Arbeit wird dieser funktionale Wandel, der sich vornehmlich in der althochdeutschen Sprachperiode (750–1050 n. Chr.) abspielte, erstmals computergestützt und mit korpuslinguistischen Methoden anhand der fünf größten ahd. Textdenkmäler aus dem Referenzkorpus Altdeutsch rekonstruiert. Dabei wird die Entwicklung des Definitartikels als Konstruktionalisierung der Struktur [dër + N] begriffen: Das ursprüngliche Demonstrativum dër verliert seine zeigende Bedeutung und erschließt neue Gebrauchskontexte, in denen die eindeutige Identifizierbarkeit des Referenten auch unabhängig von der Gesprächssituation gewährleistet ist. In der Arbeit wird gezeigt, dass diese Kontextexpansion maßgeblich von der kognitiv-linguistischen Kategorie Belebtheit beeinflusst wird.
Mit der Untersuchung soll der funktionale Wandel des Definitartikels empirisch erschlossen werden. Das Ziel ist, über systematische Analysen von Gebrauchskontexten, in denen dër erscheint, die ersten Stufen des Grammatikalisierungspfades (Lehmann 2015) für das Deutsche zu rekonstruieren und auf den Prüfstand zu stellen. Es wird davon ausgegangen, dass zu den ursprünglich pragmatisch-definiten (situationsabhängigen) Gebrauchskontexten semantisch-definite (situationsunabhängige) hinzukommen (Löbner 1985; Himmelmann 1997). Die Entwicklung des Definitartikels spielt sich aber nicht nur auf Morphem-, sondern auch auf Phrasenebene ab, da sich erst in Verbindung mit einem Substantiv aus dem ursprünglichen Demonstrativum ein Definitartikel entwickeln konnte. In anderen Kontexten grammatikalisieren Demonstrativa bspw. zu Konjunktionen oder Personalpronomen (Diessel 1999). Aus der bisherigen Forschung (u.a. Oubouzar 1989; 1992) lässt sich ableiten, dass nicht alle Substantivtypen gleichermaßen mit dër kombiniert werden. Aufbauend auf Szczepaniak (2011b) und Enger & Nesset (2011) wird die Hypothese aufgestellt, dass der kognitiv-linguistische Faktor Belebtheit (in Interaktion mit Individualität, Relevanz und Agentivität) bestimmt, welche Substantive determiniert werden. Es wird davon ausgegangen, dass die Expansion bei menschlichen und kommunikativ-relevanten Referenten beginnt und weiter entlang der Belebtheitsskala in Richtung Abstrakta und Massennomen verläuft. Der Zusammenhang von Belebtheit und dër-Gebrauch soll mit einer Korpusuntersuchung empirisch nachgewiesen werden.
Die Untersuchung ist im Rahmen der historischen Konstruktionsgrammatik verankert (s. u.a. Traugott 2003; Bergs & Diewald 2008; Traugott & Trousdale 2013). Eine zentrale Annahme der Konstruktionsgrammatik ist, dass Sprache aus einem stukturierten und über die Zeit veränderbaren Netzwerk von konventionalisierten Form-Funktionspaaren, den Konstruktionen, besteht und sich gebrauchsbasiert wandelt (Bybee 2010; 2013). Die Entwicklung des Definitartikels wird dabei als Konstruktionalisierung aufgefasst. Vor diesem theoretischen Hintergrund wird auch der Frage nachgegangen, inwiefern form- oder funktionsseitig ähnliche Nominalphrasen den Wandel von [dër + N] analogisch beeinflussen. Zentral ist dabei die Idee, dass sich dër als Default-Marker für Definitheit innerhalb eines Determiniererschemas etabliert, welches Sprecherinnen und Sprecher auf Basis ähnlicher adnominaler Definitheitsmarker, etwa [Possessivartikel + N] oder [Genitivattribut + N] abstrahieren (vgl. für das Englische Sommerer 2015).
Einleitung.Zielsetzung.
Aufbau.
Theoretischer Rahmen.Die grammatikalisierungstheoretische Perspektive.
Universelle Entwicklungsstufen.
Primäre oder sekundäre Grammatikalisierung?
Parameter der Grammatikalisierung.Die konstruktionsgrammatische Perspektive.
Prämissen der Konstruktionsgrammatik.
Konstruktionswandel und Konstruktionalisierung.
Die Herausbildung des Schemas [Definitartikel + N].
Type- und Token-Entrenchment.Mechanismen des Wandels.
Analogie.
Reanalyse.Zusammenfassung.
Von einer artikellosen Sprache zu einer Artikelsprache.Definitheit im Althochdeutschen.
Determinierer.
Schwache Adjektivflexion.
Aspektoppositionen.
Wortstellung und Informationsstruktur.
Semantik und Syntax des adnominalen Genitivs.Gründe für die Herausbildung des Definitartikels.
Übernahme der nominalen Flexionsendungen.
Ersatz für die schwache Adjektivflexion.
Kompensation zum Aspektsystem.
Reaktion auf Wortstellungswandel.Vom Demonstrativ- zum Definitartikel.
Expressivität als Katalysator für den Wandel.
Einflussfaktoren für die Entwicklung.
Brückenkontexte.Zusammenfassung.
Demonstrativ- vs. Definitartikel.Semantische Analysen definiter Ausdrücke.
Gebrauchskontexte für Demonstrativartikel.
Situativer Gebrauch.
Anaphorischer Gebrauch.
Diskursdeiktischer Gebrauch.
Anamnestischer Gebrauch.Gebrauchskontexte für Definitartikel.
Verwendung in demonstrativen Gebrauchskontexten.
Abstrakt-situativer Gebrauch.
Assoziativ-anaphorischer Gebrauch.
Nicht-familiärer Gebrauch.
Nicht-referentielle Gebrauchskontexte.Pragmatische und semantische Definitheit.
Zusammenfassung.
Belebtheit.Belebtheitshierarchien.
Belebtheitsgesteuerter Wandel des Definitartikels.
Belebtheit und Individualität.
Der Definitartikel als Individualisierer.
Konkreta vs. Abstrakta.
Zählbare Nomen vs. Massennomen.Belebtheit in Interaktion mit anderen Faktoren.
Semantische Rollen.
Relevanz.Zusammenfassung.
Untersuchungsmethode.Das Althochdeutsche und seine korpuslinguistische Erschließung.
Textauswahl.
Isidor.
Monseer Matthäus.
Tatian.
Otfrids Evangelienbuch.
Notkers Boethius.Datenaufbereitung.
Das Referenzkorpus Altdeutsch.
Export aus ELAN und Aufbereitung mit R.
Annotationsschritte.Analysemethoden.
Qualitative und quantitative Analysen.
Umgang mit Differenzbelegen.Zusammenfassung.
Ergebnisse.Überblick: Frequenz von [dër + N].
Das funktionale Spektrum von dër.
Definitheitskontexte.
Superlative.
Unika.Kognitive Einflussfaktoren für die dër-Setzung.
Belebtheit.
Individualität.
Relevanz.
Semantische Rollen.Struktur der Nominalphrase.
Pränominale Strukturmöglichkeiten.
Stellungsfestigkeit der Determinierer.
Die Korrelation von schwachem Adjektiv und dër.Zusammenfassung.
Die Konstruktionalisierung von [Definitartikel + N].Der funktionale Wandel von dër.
Ab wann ist dër ein Definitartikel?
Brückenkontexte.
Modellierung des Entwicklungspfades.Expansionspfade von [dër + N].
Host-class expansion.
Syntactic-context expansion.Analogien und Entrenchment im NP-Netzwerk.
Determiniererschema.
Wegbereiter und Blockaden.Zusammenfassung und Ausblick.
Literaturverzeichnis.
Register.
Autorenregister.
Sachregister.